1. Platz: Delirvermeidung durch ehrenamtliche Patientenbegleiter im Klinikverbund Südwest

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Einleitung

Knapp 2 Millionen Menschen über 80 Jahre leben in Deutschland. Laut Auskunft des Deutschen Zentrums für Altersfragen hat jeder Vierte davon nur noch einmal im Monat Besuch von Familie, Freunden und Bekannten. Die zunehmende Vereinsamung hat Folgen auf die geistige wie auch körperliche Gesundheit. Analog eines bereits 2012 bis 2015 gestarteten Modellprojekts in Nordrhein-Westfalen beschloss der Kreisseniorenrat Böblingen in Kooperation mit der Klinik für Unfallchirurgie ein vergleichbares Projekt zur Patientenbegleitung; seit dem 1. Juli 2017 wurden als Pilotprojekt Besuchsdienste bei Delir gefährdeten Patienten durchgeführt. Das Delir ist ein akuter Verwirrtheitszustand von Patienten in Extremsituationen, wie beispielsweise die Notwendigkeit einer stationären Krankenhausbehandlung außerhalb der gewohnten häuslichen Umgebung. Es kommt in der Unfallchirurgie bei 15 bis 30 Prozent der Patienten über 70 Jahre vor und birgt in bis zu 15 bis 25 Prozent der Fälle die Gefahr, an den Folgen zu sterben. Ansprache, Zuwendung und Beschäftigung verringern hoch signifikant dieses Risiko.

Idee

Ein täglicher Besuchsdienst durch Laienhelfer: Die ersten Freiwilligen rekrutierten sich aus dem Verein für Nachbarschaftshilfe (FISH e.V.). Die Patientenbegleiter werden geschult, fortgebildet und versichert. Pro Nachmittag erhalten sie eine Fahrtkostenentschädigung und eine Haftpflichtversicherung. Im Sinne des Datenschutzes sind sie zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wichtige Säulen des Projektes sind Freiwilligkeit und soziales Engagement der Patientenbegleiter. Die Einsatzkoordination liegt bei der Stationsleitung. Alle Ergebnisse und Rückmeldungen werden in einem Berichtswesen erfasst. Infoschreiben für die Patienten beziehungsweise deren Angehörige und entsprechende Rückmeldebögen zur Ergebnisevaluation werden hierfür eingesetzt. Alle 6 Wochen erfolgt in kleiner Gruppe eine Evaluation, alle 4 Wochen eine Fortbildungsmaßnahme. Einmal im Monat werden Fortbildungen zu den Themen Gesprächsführung, Altersverletzungen, Osteoporose, Delir und Demenz, Hygiene, erste Hilfe, Ernährung, Mobilität und rechtliche Voraussetzungen angeboten, um den Begleitern im Anschluss nach der 30-stündigen Fortbildung ein Zertifikat aushändigen zu können. Dieses Zertifikat berechtigt, auch außerhalb der Klinik die Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliche Vormundschaft zu übernehmen. Inzwischen sind 69 Begleiter geschult und im Einsatz.

Voraussetzungen

Die Klinik für Unfallchirurgie wurde als Alterstraumatologiezentrum vom deutschen TÜV und 2010 von der deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zertifiziert. Seither konnte die komplexe Frührehabilitation sowie gemeinsame Visiten mit Geriatern und Apothekern eingeführt und die Behandlungsergebnisse signifikant verbessert und die Letalitäts-, Komplikations- und Verlegungsraten in Pflegeheime deutlich unter den Bundesdurchschnitt gesenkt werden.

Erste Ergebnisse der Pilotphase

Die erste dreimonatige Testphase wurde mit 1.500 € durch den Kreisseniorenrat finanziert. Die Begleiter betreuten und beschäftigen einen Patienten circa 1 Stunde pro Tag. Sie begleiteten die Patienten im Haus und bei der Mobilisation, vermittelten Ruhe, gaben Rückhalt und Zuwendung. Medizinische Leistungen wurden nicht durchgeführt. Von jedem Aufenthalt wurde ein kurzer Berichtsbogen erstellt.
In der Pilotphase wurden in 10 Wochen 86 Begleitungen durchgeführt. Die Patienten und Begleiter bewerteten das Ergebnis nach Schulnoten im Mittel mit 1,8. Ein Delir trat in keinem Fall auf. Eine Spende des Rotary Verein Böblingen-Schönbuch in Höhe von 2.800 € erlaubte die Fortführung des Projektes, ein Förderantrag über 20.000 € beim Sozial- und Gesundheitsausschuss des Landkreises wurde bewilligt mit der Idee, das Projekt in den nächsten 2 Jahren auf weitere Stationen im Krankenhaus und weitere Krankenhäuser des Klinikverbundes auszuweiten. Die Patienten und Begleiter fanden die Betreuung sehr gut und höchst befriedigend. Die Bewertung der Ehrenamtlichen zum Erfolg ihrer Arbeit lag nach Schulnoten im Mittel bei 1,4 und damit sogar noch besser als bei dem Pilotprojekt. Auffällig war eine deutlich geringere Frequenz von Patientenrufen an das Pflegepersonal, das also entlastet wird. Bei einer Auswertung der Krankenhausapotheke wurde der Verbrauch an Psychopharmaka vor und während des Projektes auf den Stationen gemessen. Im Vergleich vom ersten Halbjahr 2017 zum Halbjahr 2018 konnte der Verbrauch an Melperon und Risperidon-Tabletten um 15,2 Prozent gesenkt werden, ohne Änderungen der Medikationsrichtlinien.

Kostenreduktion

Seit dem 1. Juli 2017 bis 1. März 2019 begleiteten 69 Ehrenamtliche bislang 3.503 Patienten. Die mittlere Besuchszeit betrug 55 Minuten. Keiner der Patienten erlitt ein Delir. Bei einer hypothetischen Inzidenz von 15 Prozent konnte in unserem Kollektiv bei circa 450 Patienten ein Delir vermieden werden. Hätten diese ein Delir erlitten, wären folgende Kosten entstanden: Die meisten Patienten erholen sich vom Delir in 2 bis 3 Tagen, die Hälfte benötigt allerdings mindestens einen Tag länger im Krankenhaus mit Mehrkosten von 250 € und geschätzten Gesamtkosten von 56.500 €.

Fazit für die Praxis

Die Unterstützung von Laien als Patientenbegleiter führt zu einer hohen Zufriedenheit bei den Patienten und Helfern sowie zu einer deutlichen Entlastung des Pflegepersonals. Eine Aufwandsentschädigung und Versicherung der Begleiter war unabhängig vom Krankenhausbudget durch Spenden und Förderungen zu finanzieren, da das Projekt viele Unterstützer fand. Eine strukturierte Fort- und Weiterbildung ermöglichte den Begleitern neben Anerkennung auch Reputation.